Aus Sicht der Chinesischen Medizin gilt das Herz als das wichtigste Organ im Menschen. Es wird traditionell als «Kaiser» beschrieben. Als Oberhaupt des gesamten Körpers ist er über die systemische Blutzirkulation mit jeder einzelnen Zelle verbunden. Somit hängt beinahe jede Funktion im Organismus von der Funktion des Herzens ab. Aus traditioneller Sicht ist im Herzen ausserdem unser Bewusstsein verankert. Es ist der Sitz des Geistes. Betrachten wir also das Herz und den damit verbundenen Blutfluss als eine Instanz, die sämtliche physischen und psychischen Zustände im Körper verbindet und harmonisiert.
Bei der chinesischen Pulsdiagnose beurteilen wir neben dem energetischen Zustand des Herzens auch alle anderen Organe in Zustand und Qualität. Hierzu sitzen sich Patient und Therapeut gegenüber. Die Hände des Patienten befinden sich auf Höhe seines Herzens, die Handinnenflächen nach oben gekehrt. So sind Muskulatur und Gewebe maximal entspannt. Früher gab es in China weder bildgebende Verfahren noch Blutlaborwerte. Die Betrachtung der Zunge und die Beurteilung der Pulsqualität waren die einzigen Handwerkszeuge, um Aussagen über den Gesundheitszustand des Patienten zu treffen.
Die Handgelenkspulse werden in drei Positionen unterteilt. Sie nennen sich Cun, Guan und Chi und liegen in der Nähe der Daumenwurzel eng beieinander. Mit gleichmässigem Druck erfolgt durch uns Therapeuten anfänglich eine Gesamtbeurteilung der Organfunktionen und des Körperzustandes. Hierzu legen wir Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf die entsprechenden Positionen am Handgelenk. Bei weiblichen Patienten prüfen wir zuerst den Puls der rechten Hand, bei männlichen Patienten beginnt die Pulstastung an der linken Hand.
An der linken Hand finden wir (von vorne nach hinten) die Organe Herz und Perikard, Leber und Gallenblase, Nieren, Blase und Dickdarm. Rechts befinden sich die Pulspositionen für die Organe Lunge und Thorax, Milz und Magen, Nieren, den sogenannte Dreifach-Erwärmer und Dünndarm. Wir Therapeuten prüfen die drei Handgelenkspositionen in drei verschiedenen Tiefen, um eine umfassende Aussage treffen zu können. So beginnen wir damit, mit leichtem Druck auf die Haut den oberflächlichen Puls zu fühlen. Hierzu ist nur sehr wenig Kraft erforderlich. Danach folgt ein mässig starker Druck, um den Puls in den muskulären Partien des Patienten zu suchen. Gefolgt von starkem Druck, wobei die Fingerbeeren bis an Knochen und Sehnen hinab drücken. Hierbei bewegen sich die Finger von vorne nach hinten, so dass der Puls «schiebend» untersucht wird.
Der Puls wird also durch seine Tiefe, Länge und Breite definiert. Unter den tastenden Fingern des Therapeuten ist ein gesunder, physiologischer Puls ruhig und kräftig spürbar, gleichmässig schlagend und in allen drei Tiefen gut tastbar. Er sollte weder kurz noch lang sein, weder breit noch schmal, weder schnell noch langsam. Eine Frequenz von vier Schlägen pro Atemzug gilt als perfekt - das wären 60-80 Schläge pro Minuten. Alles in allem harmonisch und sanft, ein von Gelassenheit durchströmter Puls. Interessant ist, dass beim Tasten der Puls bei Männern oft voll und kräftig erscheint, während er bei Frauen eher dünn und kraftlos ist. Vor der Menstruation oder während einer Schwangerschaft besitzt er eine unruhige und schlüpfrige Qualität.
Grundsätzlich sollte eine Pulsdiagnose im Ruhezustand erfolgen, ohne körperlicher Anstrengung im Vorfeld und ohne emotionale Aufregung. Heisse Getränke, Alkohol, Hungergefühl und innere Anspannung beeinflussen die Pulsqualität. Das gleiche gilt für Jahreszeiten und sogar Witterungseinflüsse. Während der Puls im Frühjahr oft drahtig daherkommt und an eine Gitarrensaite erinnert, ist er im Sommer eher breit und kräftig. Im Herbst ist er oftmals direkt an der Hautoberfläche spürbar, im Winter liegt er tiefer im Gewebe verborgen. Dies hat damit zu tun, dass sich Qi und Blut in der kälteren Jahreszeit ins Körperinnere zurückziehen. Sämtliche Informationen aus der Pulsdiagnose werden zusammen mit dem Beschwerdebild des Patienten in Beziehung gesetzt. Damit allerdings eine vollständige Beurteilung und Behandlungsstrategie erfolgen kann, braucht es das zweite wichtige Werkzeug zur Diagnoseerstellung: die Zungendiagnose. Hierüber berichten wir ausführlich im nächsten Blogartikel.